Titelbild des Artikel: Türöffnung zum Paradies – Vor 50 Jahren eröffnete das erste Schweizer Einkaufszentrum

Türöffnung zum Paradies – Vor 50 Jahren eröffnete das erste Schweizer Einkaufszentrum

Foto: ETH-Bibliothek

12. März 1970: Vor gut 50 Jahren öffnete das Shoppi Spreitenbach seine Türen. In Zusammenarbeit mit dem Projekt «Zeitgeschichte Aargau» hat die Aargauer Zeitung einen Dokfilm produziert. Er erzählt die Geschichte des Shoppi, aber auch, wie Spreitenbach ab den 1960ern vom Bauerndorf zur Stadt wurde.

Dieser Artikel von Fabian Furter und Simone Morger erschien am 12. März 2020 im Badener Tagblatt. Fabian Furter ist freiberuflicher Historiker und Ausstellungsmacher in Baden. Als Co-Projektleiter und Autor von «Zeitgeschichte Aargau» hat er in Zusammenarbeit mit Simone Morger, Videoredaktorin Aargauer Zeitung, den Dokfilm realisiert.

«Das sind schon grosse Bauten, die hier realisiert wurden», meint Walter Hunziker, als wir auf den ausgedehnten Parkplatz des Shoppi Tivoli einbiegen. Für den 91-jährigen Architekten und Stadtplaner ist es ein spezieller Moment. Wir filmen ihn dabei, wie er zum ersten Mal an den Ort zurückkehrt, den er vor bald 60 Jahren zu planen begann.

Die «grossen Bauten» waren nämlich seine Idee. Walter Hunzikers Lebensgeschichte ist so facettenreich wie filmreif. Immerhin findet eine Episode daraus nun Eingang in unseren Dokumentarfilm. Und diese erzählt er uns so: Hunziker lebt seit über zehn Jahren in Amerika, wo er an der Universität von Atlanta ein Diplom als Architekt und eines als Stadtplaner gemacht hat. Als er 1961 seine Eltern in Zürich besucht, zeigt ihm der Vater ein Inserat, in dem ein Architekt mit Amerika-Erfahrung für den Bau eines Einkaufszentrums gesucht wird.

Der Suchende ist Denner-Boss Karl Schweri. Der Detailhandels-Pionier und gebürtige Aargauer ist es nämlich, der die Idee des ersten grossen Einkaufszentrums der Schweiz über seinen Immobilien-Anlagefonds vorantreibt. Hunziker bekommt den Job und entscheidet sich für eine Rückkehr in die Heimat. Zusammen mit dem Ökonomen Fritz Frey gründet er eine Firma und beginnt 1962, im Limmattal ein neues Stadtzentrum zu planen.

Spreitenbach will nämlich Stadt werden. 30'000 Einwohner sollen es im «Endausbau» sein. Und eine Stadt braucht ein lebendiges Zentrum. Es ist den Planern ein ernstes Anliegen: Das Vorhaben soll kein reiner Konsumtempel werden. Es muss auch der Kultur und Begegnung dienen.

Acht Jahre dauert der Planungs- und Bauprozess. Das Endprodukt davon heisst «Shoppi», ist also doch in erster Linie ein Konsumtempel, aber eben nicht nur. Hunziker erzählt uns diese Geschichte, während wir zusammen in einer Kaffeebar im Lichthof «seiner» Mall sitzen.

Shoppi-Tivoli-1970-Spreitenbach
Foto: ETH-Bibliothek

Zum Kegeln in den Wurstkessel

Schnitt. Wir besuchen das Ehepaar Josefina und Luciano Giolo im alten Dorfkern von Spreitenbach. Die beiden erinnern sich lebhaft an die Eröffnung des Shoppi. Sie waren dabei, als erstmals die farbigen Opel Kadett, die Ladas und VW-Käfer die Parkflächen fluteten. Mit ihren Kindern sind sie ein paar Jahre zuvor in das neue Hochhaus-Quartier unmittelbar beim Einkaufszentrum gezogen. Dieses Neu-Spreitenbach entstand in den Sechzigerjahren und bot etwa 5000 Menschen ein Zuhause. Darunter viele junge Familien. Die Annehmlichkeiten der modernen Blockwohnung waren ein Quantensprung bezüglich Lebensqualität für die junge Mutter Josefina, die in einem Bauernhaus aufgewachsen war.

Als das Shoppi seine Türen öffnete, bot es den Hausfrauen nicht nur umfassende Einkaufsmöglichkeiten, es war auch ein beliebter Treffpunkt. Es gab (und gibt) Restaurants, ein Hallenbad, Kegelbahnen, ein Kinderparadies und vieles mehr. Luciano, der gelernte Automechaniker, erinnert sich anerkennend an die Rennauto-Ausstellungen in der Mall und Josefina an die farbenfrohe Tulpenschau jeweils im Frühling.

Rund 700 Menschen sorgten in den über 60 Geschäften und Restaurants für einen reibungslosen Betrieb dieser hermetischen Konsum- und Freizeitmaschine (Heute sind es mehr als doppelt so viele). Josefina Giolo war eine von ihnen. Über 20 Jahre arbeitete sie hier in verschiedenen Läden. Der tägliche Abendverkauf im Shoppi war ein schlagendes Marketingargument für die Kundschaft, aber auch für die Angestellten. Josefina war es so möglich, einem Teilzeitjob nachzugehen, nachdem ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam. Und wenn sie nach Ladenschluss noch mochte, traf sie Kolleginnen und Kollegen im Untergeschoss zum Kegeln oder einfach zum Umtrunk in der Bar «Wurstkessel».

Giolos erinnern sich an Volieren, Aquarien, viel Pflanzgrün und natürlich an den grossen Brunnen mit dem beleuchteten Wasserspiel, der den Lichthof der Mall optisch und akustisch zu einer Art Dorfplatz machte. Hier traf man sich. Hier verweilte man. Nicht wenige Spreitenbacherinnen und Spreitenbacher betraten dank dem Shoppi erstmals ein Hallenbad und kamen hier sogar in Kontakt mit bildender Kunst. Tatsächlich gab es in der Anfangszeit auch eine Kunstgalerie. Eine Ausstellung mit Werken von Hans Erni eröffnete den Reigen.

Und gäbe es den ökumenischen Andachtsraum im Galeriegeschoss noch, er wäre definitiv aus der Zeit gefallen. Damals aber bot er Stille mitten im geschäftigen Treiben. «Ein Ort der Begegnung zwischen den christlichen Bekenntnissen», wie die beiden Kirchgemeinden schrieben. Das schien tatsächlich zu funktionieren. Der damalige Direktor des Shoppi, Werner Kuster, gab drei Monate nach der Eröffnung dem Aargauer Kurier zu Protokoll: «Jedes Mal, wenn ich hineinschaue, entdecke ich einige Andächtige, darunter sogar Junge mit langen Haaren ...». Der Konjunkturverlauf war für das Shoppi aber länger je mehr ein Bekenntnis zum Konsum. Aus Kunstgalerie und Andachtsraum wurden bald Verkaufsflächen.

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Total unterschätzt

Schnitt. Das mit dem Neu-Spreitenbach wollen wir etwas genauer unter die Lupe nehmen. Dafür treffen wir den Architekturkritiker und Stadtwanderer Benedikt Loderer. Wir spazieren durch das nicht mehr so neue Neu-Spreitenbach. Das sei hier eigentlich ein einziger grosser Park, so Loderer, worin das Wohnen in locker angeordneten, grossen Wohnblöcken stattfindet. Die Funktionen einer Stadt – Arbeit, Verkehr, Freizeit und eben Wohnen – werden räumlich voneinander getrennt, das bringt Sauberkeit und Ordnung.

Loderer berichtet von der Charta von Athen, welche hier in beeindruckender Konsequenz zur Anwendung kam. Dieses städtebauliche Manifest aus der Zwischenkriegszeit wurde ganz wesentlich vom Schweizer Architekten Le Corbusier geprägt. Es war die Schablone für die Stadt der Moderne überall auf der Welt.

Schnitt. Zum Abschluss gehen wir noch auf das Dach der «Leberwurst», dem Scheibenhochhaus mit der bläulichen Fassade. Es gehört zum Shoppi und ist mit seinen 70 Metern Höhe quasi die wehende Flagge des Komplexes. Mit Bededikt Loderer unterhalten wir uns über die Kritiker, welche bald nach dem Bau des Shoppi in Spreitenbach alle vermeintlichen Fehler der Raumentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg versammelt sahen. Loderer sieht das anders. Er meint, Orte wie Spreitenbach würden total unterschätzt. Hier finde doch das wahre Leben statt!

Abspann. Spreitenbach fasziniert uns. Seine extremen Gegensätze sind so unschweizerisch. Hier idyllisches Bauerndorf, dort Trabantenstadt der Moderne. Und als Scharnier in der Mitte das Shoppi. Der damalige Ortsplaner Klaus Scheifele nannte Neu-Spreitenbach ein raumplanerisches Experiment. Wir finden, das trifft es nicht schlecht. Bei einem Experiment klappt nicht immer alles auf Anhieb. Das ist hier sicher auch so. Nach verschiedenen Gesprächen, auch mit Leuten auf der Strasse, verlassen wir aber dieses «Testfeld» im Wissen, dass die Menschen gerne hier leben. Also: Experiment im Wesentlichen gelungen.

«Türöffnung zum Paradies»: Die Erklärung des Titels sind wir jetzt schuldig geblieben. Er stammt aus einer Inseratekampagne des Shoppi, welche bereits ein halbes Jahr vor dessen Eröffnung in den Printmedien lanciert wurde. «Wir bauen ein Paradies. Ein Paradies für modernes und gemütliches Einkaufen», hiess es darin. Im gleichnamigen Film (ganz oben) ist es zu sehen.