Das Limmattal wächst immer mehr zu einer Stadt zusammen. Grosse Veränderungen lösen – vor allem in Dörfern – auch Unsicherheiten aus. Warum wir uns auf den Wandel freuen dürfen.
Text: Jasmin Vogel, Fotos: Jonas Holthaus
Wer im Limmattal wohnt, hat es längst bemerkt – es wird gebaut und umgenutzt, immer höher und immer mehr. Die Region wächst, es braucht Platz für Arbeitsplätze, Wohnungen und Industrie. Manch eine Person trauert sicherlich vergangenen Zeiten nach und hat Mühe mit dieser Veränderung der eigenen Umgebung.
Die Macht der Gewohnheit
Dass wir Veränderungen mit Skepsis begegnen, ist völlig normal. «Zum Überleben ist das eine sinnvolle Strategie», bestätigt Alice Hollenstein. Sie gründete vor neun Jahren das Beratungsunternehmen Urban Psychology. «Ausserdem wird mit einer Veränderung der Umgebung oft auch die eigene Identität infrage gestellt.» Menschen reagieren aber auch positiv auf Veränderung: Es entstehen beispielsweise Gefühle wie Neugier und Vorfreude. «Wer bei der Stadtplanung die Bedürfnisse der Anwohnenden abholt und ihnen attraktive Angebote wie zum Beispiel eine direkte ÖV-Anbindung bietet, kann sie eher für die Veränderung begeistern. Die Urbanisierung ist ausserdem eine grosse Chance, neue Formen des Zusammenlebens auszuprobieren. Besonders für diejenigen, die sich in ihren alten Strukturen nicht wohlfühlen», sagt die Psychologin.
Die Stadt ist schon da
Als Verkehrsachse nach Zürich spüren die Limmattaler Gemeinden die negativen Eigenschaften einer Stadt bereits seit einiger Zeit: Dichte, Verkehr und Lärm. Das sagt Michael Hermann, Geschäftsführer des Meinungsforschungs- und Analyseinstituts Sotomo. «Eine Stadt bietet aber auch viel Gutes. Es ist eine Planungsfrage, bei der fortschreitenden Urbanisierung jetzt auch vermehrt die positiven Seiten des Stadtlebens ins Limmattal zu bringen. Beispielsweise mit schönen Parks, mit guter Infrastruktur oder einem vielfältigen Freizeitangebot.»
10-Minuten-Nachbarschaften als Chance
Die Expertin für Raumentwicklung Sibylle Wälty forscht und lehrt unter anderem an der ETH Zürich und berät mit ihrem Start-up Resilientsy zu sogenannten 10-Minuten-Nachbarschaften. Gemäss ihrer Forschung erhöhen Dichten im Sinne der 10-Minuten-Nachbarschaft die Wahrscheinlichkeit, dass die Anwohnenden ihre Bedürfnisse des Alltags in Gehdistanz erreichen können: Jobs, Wohnen, Einkauf, ÖV, Bildung, Betreuung, Freizeit, Dienstleistungen wie der Coiffeursalon und teilweise sogar den eigenen Arbeitsplatz. «Diese attraktive Nutzungsdichte in einem Radius von 500 Metern mit idealerweise mindestens 10'000 Einwohnenden und 5000 Vollbeschäftigten kann lebendige, gut durchmischte Nachbarschaften entstehen lassen», so ihr Fazit.
Eine Stadt für alle
Grandiose Zukunftsbilder vergessen oft, was bereits da ist. Nicht alles muss abgerissen und neu gebaut werden. So die Meinung von Fabienne Hoelzel. Die Gründerin der NGO Fabulous Urban und Professorin für Entwerfen und Städtebau an der staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart sieht den richtigen Weg darin, bestehende Bauten mehrfach und neu zu nutzen, sie zu sanieren und zu erweitern. «Es ist wichtig, die Planung und Entwicklung anhand der Bedürfnisse der Anwohnenden zu gestalten. Denn unterschiedliche Personengruppen nutzen den öffentlichen Raum anders, da sich auch ihre Bedürfnisse stark voneinander unterscheiden. Ein Senior mit Rollator beispielsweise soll sich genauso wohlfühlen in der Stadt wie eine junge Frau oder eine Familie mit Kindern, die aus dem Ausland hergezogen ist. Das Ziel ist eine Stadt für alle, eine sogenannte ‹Fair Shared City›.»
Wird also das Stadtquartier zu einem modernen Dorf? Städte, Quartiere und auch Dörfer werden letztlich von den Menschen geprägt, die dort ihre Zeit verbringen. Die Stadtwerdung des Limmattals wird somit zur grossen Chance, die Region aktiv so zu verändern, wie sie allen gefällt. So wie frühere Generationen ihre Dörfer gestaltet haben und kommende Generationen jetzt schon bestehende Ideen weiterentwickeln werden.