Einfach nur ein Tram oder vielleicht doch mehr? Psychologin Alice Hollenstein erklärt, was Ortsidentität ist und wie die Limmattalbahn diese verändern könnte. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Gemeinde-Exekutiven.
Interview: Robin Schwarz
Die Limmattalbahn ist ein politisches und infrastrukturtechnisches Mammutvorhaben, und das ist mit hohen Erwartungen verbunden. Was macht ein solches Projekt mit der Seele einer Region?
Schnelle Erreichbarkeit unterstützt die Menschen bei ihren täglichen Aktivitäten und stärkt dadurch die Bindung der Einwohnerinnen und Einwohner zu ihrem Ort. Rein optisch wird die Limmattalbahn aber wohl nicht ein Anker werden, wie es in Zürich zum Beispiel das Polybähnli ist.
Kann die Limmattalbahn zur Identitätsstifterin werden?
Zunächst ist es wichtig, dass wir die Identität eines Ortes von der Ortsidentität unterscheiden. Die Identität eines Ortes ist das Image eines Ortes. Unter Ortsidentität hingegen verstehen wir in der Architekturpsychologie, dass ein Ort Teil der menschlichen Identität wird. Mit Orten, die Teil unserer Ortsidentität sind, verbinden wir beispielsweise Erinnerungen, oder wir engagieren uns stärker für sie. Am Ende stehen zwei Fragen: Erhält die Limmattalbahn eine emotionale Komponente für die Anwohnerinnen und Anwohner? Und kann sie ihren Nutzen so entfalten wie geplant? Beides wird sich zeigen.
Die neue Tramlinie wird durch zahlreiche Gemeinden führen. Wenn sie identitätsstiftend für die Region sein kann, bedeutet das im Umkehrschluss aber auch, dass die Identität der jeweiligen Gemeinden vielleicht bedroht ist?
Veränderung macht den Menschen manchmal Angst. In einer veränderten Umgebung muss ich mich neu zurechtfinden, und das kann zunächst hemmen. In einer Umwelt, in der wir alles kennen, fühlen wir uns sicher. In der Psychologie spricht man dann von einer höheren Handlungskompetenz. Gute Politikerinnen und Politiker sind sich aber bewusst, was in ihren Gemeinden identitätsstiftend wirkt und den Menschen wichtig ist. Sie kultivieren diese Qualitäten und ergänzen sie gekonnt mit neuen Nutzungen, sodass die Identität nicht bedroht, sondern gestärkt wird.
«Gute Politikerinnen und Politiker sind sich bewusst, was in ihren Gemeinden identitätsstiftend wirkt.»
Was mit der Identität des Ortes und der Ortsidentität geschieht, liegt also nicht nur an externen Faktoren und Entwicklungen, sondern vor allem auch daran, wie die Politik damit umgeht.
Ich erlebe immer wieder, wie entscheidend die Exekutive einer Gemeinde ist, wenn es um die Frage geht, wie gut sie sich entwickelt. In der Regel entsteht zuerst die Infrastruktur, dann steigt der Investitionsdruck. Wichtig ist, diesen richtig zu lenken, um qualitätsvolle Innenentwicklung zu fördern. Dafür entscheidend ist ein guter Städtebau, der gleichermassen für Vielfalt, aber auch eine gewisse Ordnung sorgt, zum Beispiel durch Farb- und Materialkonzepte. Daneben sind Grünräume sowie die vielfältige Nutzbarkeit eines Ortes wichtig. Die Forschung zeigt, wenn ein Ort das menschliche Mass und eine gewisse Komplexität statt Monotonie aufweist, steigert dies die Ortsidentität – das heisst die Identifikation der Einwohnerinnen und Einwohner mit ihrem Ort. Ohne gutes Leitbild entsteht ein Durcheinander im Ortsbild, und Studien zeigen, dass das den Menschen nicht gefällt.
Mit der Limmattalbahn wird die Region dichter zusammenrücken. Das Wort «Dichte» ist für viele Menschen aber negativ besetzt. Sprich: Dichtestress.
Dichte hat ihr eigenes Forschungsgebiet: die Crowding-Forschung. Ein interessantes Experiment aus diesem Gebiet zeigt, dass Dichte nicht so objektiv ist, wie man zunächst meinen könnte. Setzt man hundert Menschen in einen Raum mit hundert Quadratmetern und halbiert den Platz, schütten sie weniger Stresshormone aus, als wenn man auf dieselben hundert Quadratmeter noch einmal hundert Menschen hinzufügt. Und das, obwohl das keinen mathematischen Unterschied macht. Dichtestress hängt von der subjektiven Wahrnehmung und auch von Gewohnheit ab. So weiss man aus Studien, dass Menschen in Asien beispielsweise mehr an Dichte gewöhnt sind, während Menschen bei uns auf dem Land wiederum mehr Dichtestress erleben.
Kann Dichte auch etwas Gutes haben?
Auf jeden Fall. So bringt Dichte zum Beispiel eine grössere Auswahl an Jobs, Restaurants, Hobbys oder Freunden. Das sind Gründe, weshalb man gerne in der Stadt wohnt. Dichte kann zu kürzeren Wegen und schnelleren Verbindungen führen. Gleichzeitig ist es wichtig, wenn man jetzt verdichtet, dass man den Menschen auch genügend Ressourcen zur Verfügung stellt, damit keine Angst vor Knappheit entsteht. Hierzu zählen zum Beispiel mehr Freizeitinfrastrukturen wie Badis oder Parks. Dichte bedeutet aber auch, dass man Dinge verliert, etwa Aussicht. Darum stellt sich immer die Frage: Was kriege ich dafür?
Zur Person
Alice Hollenstein hat einen Master of Science in Psychologie und ist Co-Geschäftsführerin vom Center for Urban & Real Estate Management (CUREM) sowie Gründerin von Urban Psychology Consulting & Research. Sie setzt sich dafür ein, dass Gebäude und Städte eine maximale Wertschätzung durch ihre Nutzer/- innen erfahren.